Pieces of a Woman: Drama um eine Frau, die bei der Geburt ihr Baby verliert und versucht weiterzuleben.
Drama um eine Frau, die bei der Geburt ihr Baby verliert und versucht weiterzuleben.
Es gibt Filme, die sind wie ein entzündeter Nerv, ihre Emotionen sind so roh, dass man sie als Zuschauer ganz unmittelbar spürt, die sind so direkt und gehen tiefer, als man es gewohnt ist im Kino, das ja auch immer eine Flucht vor der Realität ist. Das mag der Grund sein, warum „Pieces of a Woman“ von Kornél Mundruczó gerade mit Cassavetes verglichen wird oder mit Bergman, den beiden ewigen Wahrheitssuchern des Weltkinos, für die Filme immer auch offene Wunden waren, die man nicht bedecken und verarzten, sondern schonungslos untersuchen und sezieren muss. Zumindest auf die erste halbe Stunde des ersten komplett auf Englisch und mit amerikanischen und englischen Schauspielern gedrehten Films des ungarischen Filmemacher trifft das unbedingt zu, wenn man als Zuschauer in einer ungeschnittenen Einstellung miterlebt, wie eine Hausgeburt den schlimmst möglichen Ausgang nimmt: Zwar gelingt es der Hebamme, den zunehmend schwachen Herzschlag des Babys zu stabilisieren und es lebend auf die Welt zu bringen, doch dann hört es in den Armen der Mutter unvermittelt auf zu atmen und stirbt. Es ist ein erschütternder Filmauftakt, nur deshalb zu ertragen, weil der Regisseur, sein Kameramann und seine Schauspieler auf absolut höchstem Niveau agieren. Der Moment ist so echt, wie Kino sein kann, und hat doch eine transzendierende Kraft: Warum würde man sonst noch weiterzusehen wollen, wenn der nackte Horror gleich am Anfang des Films steht?
In sieben weiteren Kapiteln, jeweils getrennt von ungefähr einem Monat, sieht man zu, wie Martha, die Mutter des todgeborenen Säuglings, mit der Tragödie umgeht und für sich versucht, wieder einen Zugang zu ihrem Leben zu finden, während die Öffentlichkeit ihren Blick auf den Gerichtsprozess richtet, in dem sich die Hebamme wegen Vernachlässigung ihrer Pflichten zu verantworten hat. Martha, in einer wundersamen Darstellung gespielt von Vanessa Kirby, die völlig zurecht eine Coppa Volpi in Venedig gewinnen konnte, stammt aus wohlhabendem Haus, ist aber froh, sich von ihrer dominanten Mutter, gespielt von Ellen Burstyn, abgenabelt zu haben. Vielleicht liebt sie ihren Lebensgefährten Sean ganz besonders, weil ihre Mutter ihre Abneigung gegen den ungeschlacht wirkenden Brückenbauarbeiter aus einfachen Verhältnissen kaum verhehlen kann. Doch in der Zeit nach der Katastrophe wird alles auf den Prüfstand gestellt. Während Martha sich zurückzieht in ihr Schneckenhaus, reagiert ihr Lebensgefährte mit aggressiven Gefühlsausbrüchen. Die Darstellung von Shia LaBeouf ist die eine Schwachstelle des Films: Sein Mut ist bewundernswert, und doch beschleicht einen das Gefühl, dass hier ein Schauspieler dem Irrglauben aufsitzt, mehr bedeute automatisch besser. Wie sich der aufbrausende und stolze Mann in einer Schlüsselszene doch mit Marthas Mutter arrangiert und den ultimativen Verrat begeht, ist auch eine schöne Abrechnung mit den Fallstricken des Machismo: Eben noch plustert er sich auf, dann reicht ein Scheck, dass er von der Bildfläche verschwindet.
Aber das ist nur ein Nebenschauplatz. Unterstützt von dem eleganten, virtuosen Filmemachen Mundruczos, der hier selbst seine beeindruckenden Vorgänger „White God“ und Jupiter’s Moon“ mühelos übertrumpft, und dem punktgenauen Drehbuch von Kata Weber, die auch die vorherigen Filme des Regisseurs geschrieben hatte, legt Vanessa Kirby, bekannt als Prinzessin Margaret aus „The Crown“ und Weiße Witwe im letzten „Mission: Impossible“, einen Auftritt hin, der sie auf einen Schlag unsterblich macht. Wie sie ihre Figur nie den Mut verlieren, Frieden mit sich schließen und die Kraft finden lässt, wieder nach vorne zu schauen, geht einem ungemein nah. In einem flapsigen WhatsApp-Kommentar schrieb ich einem Freund spontan: „Sie ist die neue Cate Blanchett.“ Aber ich denke, das kann man stehenlassen. Man spürt es einfach, wenn ein guter Schauspieler den entscheidenden Schritt macht hin zum Star. Für Kirby ist es dieser Film, den man nicht mehr vergessen kann. Und den man immer wieder ansehen wird.
Thomas Schultze.