
Der Hauptausschuß hat die künstlerischen und interpretatorischen Probleme, die der vieldiskutierte Film „Virdiana“ aufgibt, sehr eingehend erörtert. In der Auseinandersetzung, die sich aus der Replik des Einspruchs auf das Gutachten der Bewertungsinstanz ergibt, laufen die Argumente schließlich auf die zentrale Frage hinaus, ob der Aufweis der Heillosigkeit des Menschen in dem Film aus anarchischem Ekel (Bewertungsgutachten) komme und als Aussage der baren destruktiven Resignation angesehen werden müsse, oder der Film nicht im Gegenteil kathartische Wirkung habe, also vom Pathos eines religiös verstandenen Humanismus erfüllt sei. Der Hauptausschuß ist in Übereinstimmung mit dem Einspruchsschreiben der letzteren Auffassung. Zwar endet die Verirrung der Viridiana, die an einer starren, lebensfernen Norm von Heiligkeit und Selbstheiligung scheitert, in einer erschreckenden Szene. Da wird im individuellen Fall keine Rettung sichtbar. Die Flucht zu diesem Mann wird das Mädchen vermutlich vollends vernichten. Der Hauptausschuß wertet diesen Schluß aber künstlerisch und sittlich vor dem Hintergrund des Filmganzen als einen Aufweis der tragischen Verlorenheit des Menschen.
Bunuels Film ist künstlerisch nicht so aus einem Guß, daß andere Interpretationen, wie sie sich, was dem Antragsteller bekannt ist, seit einem Jahr eingestellt haben, ausgeschlossen wären. Der Film liegt auf drei Stilebenen: Das erste Drittel ist romanhaft, das mittlere, schwächere Drittel schwankt zwischen einem vordergründigen Realismus und gewissen allegorisch-symbolischen Zeichen, das Schlußdrittel, im wesentlichen das Bachanal der Vagabunden, ist künstlerisch und thematisch der Höhepunkt. […].
Doch dann fegt die Orgie alle Unklarheiten hinweg und setzt die Akzente klar und sicher. Der Film ist in dieser Partie von ungewöhnlicher Ausdruckskraft; er ist in der ans Blasphemische grenzenden Abendmahlsszene eine gewaltige Demonstration der grausigen Möglichkeiten des Menschen. Spiel, Bewegung, Bilder, Schnitt, tänzerisch-mimische Kraft und Treffsicherheit sind in diesem Teil von einer Dichte, Schärfe der Aussage und Differenziertheit, daß der gelegentlich bereits zitierte Vergleich mit Goyas enthüllender Kunst gerechtfertigt ist.[…].
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)