Central Station: Bewegendes, witzig-trauriges Roadmovie um ein ungleiches Paar.
Der erste lateinamerikanische Film, der auf einer Berlinale den Hauptpreis gewann, sollte trotz der wenigen Produktionen, die aus Brasilien unsere Kinos erreichten („Bye Bye, Brasil“, „
Tieta do Brasil„), eine solide Martklücke bedienen können, denn Walter Salles‘ Odyssee von Rio de Janeiro in den Sertao im Norden des Landes hat alles, was ein gutes Road Movie auszeichnet: ungebändigte Reise- und Erfahrungslust, ein ungleiches Paar, das sich während des Trips einander annähert, eine attraktive Scope-Kamera, die unbekannte Regionen Brasiliens einfängt, einen glaubwürdigen dramatischen Konflikt, wunderbar spielende Hauptdarsteller und den Sog des unbestechlichen Blicks auf ein Land, das seine Wurzeln verloren hat.
Schon der Ausgangspunkt lenkt die Story unbeirrbar in Richtung Aufbruch. Szenen aus dem Treiben auf dem Hauptbahnhof von Rio sind geschickt gemischt mit der Arbeit der ehemaligen Lehrerin Dora (Fernanda Montenegro erhielt in Berlin den Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin), die Briefe für Analphabeten schreibt, sie willkürlich sortiert und (vielleicht nie) abschickt, und in der Vorstadt mit der herzlichen Hure Irene die Botschaften beäugt und kommentiert. Als eine ihrer Kundinnen vor dem Bahnhof überfahren wird, will Dora deren urplötzlich verwaisten Sohn erst loswerden, besinnt sich aber, raubt Josué aus einer zweifelhaften Adoptionsstelle und tritt mit ihm den langen Weg zu seinem Vater an, der irgendwo im riesigen Sertao arbeitet - und sich in Vergessenheit säuft.
Die äußerst spannende Reise von Dora und Josué, während der sie Trucker, Raststätten, religiöse Feiern, mythisch umwehte Felsen, Märkte, moderne Sozialwohnungssiedlungen für die Kinder der Pioniere, Handwerker und Händler kennenlernen und sich erfindungsreich ums Geldverdienen bemühen, ist ein Glanzstück im Genre Road Movie: präzise, pointiert, problembewußt und ohne Wiederholungen auf die Identitätssuche einer alten Frau und des Jungen ausgerichtet, mitten in einer vaterlosen Gesellschaft, die an Theo Angelopoulos‘ Meisterwerk „Landschaft im Nebel“ erinnert. Der Humor des menschlichen Films sollte ihm wie bei dem ähnlich strukturierten „
Guantanamera“ die verdiente Aufmerksamkeit sichern, zusätzlich zum Berlinale-Preis-Bonus. ger.