Kissed: In hypnotisch-schöne Bilder verpackter Film über das Tabuthema Nekrophilie und die Geschichte einer absoluten Liebe.
Die längste Standing Ovation beim Festival International du Film in Cannes erhielt nicht etwa einer der Wettbewerbsfilme, sondern Lynne Stopkewichs hypnotisches, im Rahmen der „Quinzaine“ aufgeführtes Erstlingswerk „Kissed“. Sie hat sich den Applaus verdient: Fernab jeglicher Trends oder angesagter Stile benutzt die junge Kanadierin eine außergewöhnliche Boy-meets-Girl-Konstellation, um sich dem Tabuthema Nekrophilie zu nähern. Dabei ist ihr ein kraftvoller, unprätentiöser und in höchstem Maße origineller Film gelungen, der fasziniert, fesselt, bewegt und überraschenderweise nie abstößt - der Geheimtip beim diesjährigen Filmfest München.
Anders als Jörg Buttgereit in seinem deutschen, längst zum Kultfilm aufgestiegenen Splatterbeitrag zu diesem heiklen Thema, „Nekromantik“, gelingt es Stopkewich, das Tabu mit Chuzpe und Ernsthaftigkeit auf eine Weise bei den Hörnern zu packen, daß Sex mit Leichen nie als Perversion wirkt, sondern als aufrichtiger Versuch, den Tod zu transzendieren und eine Verbindung mit dem Kosmischen zu erzielen. Damit nicht genug. Die Regisseurin ist selbstbewußt genug, sich nicht mit Zustandsbeschreibungen zufrieden zu geben: Hat man sich als Zuschauer erst einmal vorsichtig an die so surreal und doch sehr poetische Welt von Stopkewichs Hauptfigur Sandra herangetastet, wird man mit einer Lovestory konfrontiert, bei der man schon bald ahnt, daß es um Leben und Tod gehen wird.
Schon in den ersten Bildern des Films erklärt Sandra ihre Faszination für alles Tote mit den Worten, sie habe Leichen gesehen, die wie Sterne schienen. Sehr deutlich ist diese Besessenheit auch sexuell motiviert, und Stopkewich scheut nicht davor zurück, ihre Heldin beim intimen Pas de deux mit ihren Objekten der Begierde zu zeigen. Diese traumhaften, surrealen Szenen sind von einer inneren Stärke und fragilen Zärtlichkeit, die nur wenig Zweifel daran lassen, daß Sandras Orgasmen als Freisetzung spiritueller Energie zu deuten sind. Von ihren Tagen als Schulmädchen, deren pathologisches Interesse an toten Tieren sie zur Außenseiterin macht, folgt „Kissed“ Sandra zu ihrer Reifung zur jungen Frau, die als Lehrling in einem Leichenschauhaus ihre Passion zum Beruf machen kann. Kompliziert wird die Situation erst, als sie mit dem Medizinstudenten Matt erstmals einen lebenden Menschen kennenlernt, der nicht nur nicht von ihren sexuellen Preferenzen abgestoßen ist, sondern sogar bereit ist, sie mit ihr zu teilen. Der Versuch schlägt fehl, und sein verzweifeltes Bestreben, Sandra nicht nur körperlich nahe zu sein, endet in einem dramatischen Showdown, in dem die Grenzen zwischen Sex und Tod endgültig verwischen.
Zu keinem Zeitpunkt fällt Lynne Stopkewich ein Urteil über ihre exzeptionelle Protagonistin, die von der herausragenden Molly Parker mit einer bemerkenswerten Verletzlichkeit zum Leben erweckt wird: Wenn sie die aufgebahrten Leichen in tiefer Stille mit beruhigenden Worten tröstet, dann stellt sich Gänsehaut nicht ein, weil man Ekel empfindet, sondern weil man in diesen Momenten mit ihr empfindet. Die Intimität von Sandras Obsession, die sie selbst als etwas Heiliges erachtet, macht „Kissed“ zu einem atemberaubenden Trip: Nie zuvor hat ein Filmemacher die alte Weisheit, daß Liebe niemals stirbt, so konsequent auf Zelluloid gebracht. ts.