Mit „Kinder des Olymp“ schuf Regisseur Marcel Carné einen der wichtigsten Filme des französischen Nachkriegskinos, dessen faszinierende Bildintensität und hervorragende schauspielerische Leistungen auch heute noch genauso überzeugen wie seine zutiefst menschlische und poetisch inszenierte Geschichte. Ein wunderbarer Film über die Theaterbühne des Lebens.
Jurybegründung:
Baptiste, melancholischer Spaßmacher in einer Schaubude, der später durch seine pantomimische Meisterschaft zu Ruhm kommt, wird von Nathalie geliebt, einer kleinen Schauspielerin; er aber liebt eine andere, die von Gehimnis umgebene Garance. Da ist der - auch berufliche - Rivale Frédérick, da ist der reiche und vornehme Graf, der Garance zu seiner Frau macht. Es vergehen Jahre. Baptiste hat Nathalie geheiratet. Eines Tages begegnet er noch einmal Garance, und er ist bereit, Frau und Kind zu verlassen. Doch Garance geht fort; Baptiste folgt ihr in das Menschengewühl des Karnevals, ohne sie wieder zu finden. Beide entschwinden in der tanzenden Masse.
Keine große Geschichte und keine neue Geschichte. Die Parallele zum alten Trio der italienischen Komödie - Colombine, Pierrot, Harlekin - ist deutlich.
Marcel Carné und Jacques Prévert haben daraus einen großen und (da man nach 20 Jahren kaum mehr „neu“ sagen kann) zeitlosen Film gemacht. Seine technische und stilistische Perfektion, seine poetische und menschliche Intensität, seine Kultiviertheit, seine Intelligenz, sein Gefühl für Rhythmus in Bild, Wort und Musik sind immer noch von unvermindert starker Wirkung. Über 5000 Meter Länge, und nicht eine Einstellung, auf die man verzichten möchte.
Die Handlung spielt auf einer doppelten Bühne, der des Lebens und der des Theaters. Die beiden Ebenen sind nicht getrennt voneinander; Dasein und Spiel sind schicksalhaft ineinander verwoben. Der Vorhang, der sich zu Beginn langsam hebt, öffnet sich für beide. Aus dem Hintergrund des großen Karnevals lösen sich einzelne Personen, ihr Leben vermischt sich mit ihren Bühnenrollen. Sie haben alle Erfolg: Baptiste und Frédérick in der Kunst, Nathalie bekommt ihren Geliebten, der Graf die schöne Garance, der Bösewicht seine Rache, aber für alle ist es nur ein Teilerfolg. In dem Augenblick, in dem sie ihn erreichen, sind Spiel und Leben unvereinbar getrennt, jeder bezahlt: mit Glückseligkeit, mit Einsamkeit, mit dem Leben. Die verschiedenen Ebenen ihrer Existenz spielen ineinander, aber sie werden nicht eins.
Die Spannung des Films hat nichts mit der Dramatik von Gut und Böse zu tun, sie geht unmittelbar von den Personen aus, die alle - nicht nur die Hauptakteure - vom ersten Auftreten an von lebendiger Plastik und Präsenz sind, einige von ihnen unvergesslich: durch eine Szene, ein Gesicht, eine Geste. Ihre Wirklichkeit, die Wirklichkeit ihres Schicksals, wird geschaffen und genährt von einer poetischen Kraft, die selten so unmittelbar in einen Film überswetzt wurde. Sein künstlerischer Rang erweist sich schon dadurch, dass auch Künstliches, Konstruiertes, ja sogar Kitschiges, das zweifellos in Details der Handlung und des Milieus steckt, vollkommen aufgelöst wurden in der großartigen Geschlossenheit von Handlung und Stimmung, von Atmosphäre und Schicksal. Darstellung, Dialog und Szenerie bieten eine Fülle von filmischen Kostbarkeiten.
Man hat dem Film vorgeworfen, er basiere auf einer literarischen Konzeption, die eigentlich ins 19. Jahrhundert gehöre. Aber eine literarische Konzeption ist auch für einen Film nicht die schlechteste, vorausgesetzt, dass daraus wirklich ein Film wird, und das 19. Jahrhundert wiederum ist nicht der schlechteste Boden für literarische und ganz allgemein künstlerische Konzeptionen.
Dieser Boden ist auch heute immer noch fruchtbar und hinter aller - oft nur vermeintlicher - Moderne durchaus gegenwärtig. Das beweisen auch „Die Kinder des Olymp“, das zeigt die Wiederbegegnung mit diesem kaum zu überschätzenden Film.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)