Der verdiente „Goldene Bär“ für Bertrand Tavernier ist ei-ne schöne Wiedergutmachung, denn 1991 hatte ihn die Jury in Venedig grob übergangen, obwohl damals sein „Auf offener Straße“ den Kriminalfilm revolutioniert hatte und jene innovativen Merkmale trug, die er in „Der Lockvogel“ noch verfeinert. Der Traum vom schnellen Geld, der Glanz der Models und die Welt von Kino und Video sind für Nathalie, Eric und Bruno im Paris der coolen Neunziger Alltag, Antrieb und Aufmerksamkeitswelt. Um rasch in die USA zu gelangen und dort Prêt-à- porter-Boutiquen zu eröffnen, dient Nathalie, die ein Adreßbuch mit möglicherweise einflußreichen Kontakten führt, als Lockvogel. Während sie sich mit nur scheinbar reichen Hochstaplern, den typischen drageurs, Aufreißern der Nachtbarszene, trifft, liegen Freund Eric und Kumpel Bruno auf der Lauer. Doch alles geht schief. Am Ende haben die drei wenig Beute und zwei Morde auf ihrem Konto. Taverniers Pariser Jugendliche sind auf keinen Fall „Natural Born Killers“, sondern typische Großstadtpflanzen, die im Film sehr sympathisch gezeichnet werden. Ihre Hoffnungen, Vorlieben und Freundschaften entsprechen voll denen der Jugend in London, Berlin oder New York. Vielleicht liegt deshalb die Betroffenheit so tief, wenn gerade diese netten, chicen und durchschnittlichen copains zu Mördern werden. Eine Fülle von Details, falschen Handlungen, Übersprungsreaktionen und irrealen Annahmen in bezug auf ihre Taten führt erst zu dem Moment, in dem sie im Grunde bewußtseinslos töten: ohne Vorbedacht und bös-brutale Absicht, aber doch mit grauenvollen Konsequenz. Tavernier ist klug genug, um keine eindimensionale Erklärung zu liefern, für ihn gibt es nur Symptome, die in ihrer geballte Übermacht zu dem Verlust an Realität führen, der Nathalie, Eric und Bruno ins Gefängnis bringt. Die jungen Darsteller, allen voran Marie Gillain („Mein Vater, der Held“), bringen durch ihre frische und spontane Spielart ein Höchstmaß an Lebensnähe in den Film, der durch einen Dialog auffällt, der hundertprozentig ihren Attitüden und Avancen entspricht. Meisterhaft ist die Kameraarbeit des jungen Alain Choquart, der fortsetzt, was er in „Auf offener Straße“ entwickelt hatte: schnelle Kamerabewegungen, lange Plansequenzen, die aber durch den raschen Rhythmus wie geschnitten wirken, und an Originalschauplätzen choreographierte Perspektivenvielfalt. Wenn es atemloses und enorm mitreißendes modernes Kino gibt: hier ist es. Der Preis und das Diskussionspotential sollten Lockvögel für ein sehwilliges Publikum sein. ger.