Über Auschwitz weiß man alles: KZ, Vernichtungslager, Holocaust. Über Oswiecim weiß man wenig, über den heutigen Ort, der ganz normale Menschen beherbergt und der zufällig der Schauplatz eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte war. In dieser Stadt der Gegenwart mit seiner schlimmen Vergangenheit spielt der neue Film von Robert Thalheim, der mit Netto einen beachtenswerten Debütfilm hingelegt hatte. Ein Film nicht über das Lager, sondern über dessen symbolische Ausstrahlung in die Gegenwart, über die Aura der Geschichtlichkeit, die ständig präsent ist, über den Umgang mit diesen Auswirkungen.
Sven, der neue Zivi in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, wollte eigentlich nach Amsterdam in eine Jugendherberge, aber zufällig ist er hierher geraten. Und er ist zunächst wenig beeindruckt, denn all dies kennt er zur Genüge aus dem Schulunterricht. Hier ist ein Zwang zur Betroffenheit fühlbar, eine obligatorische Demutsgestik, die sich bei Sven aber kaum aus der unmittelbaren Anschauung ergeben will; schließlich muss er hier arbeiten, muss Jugendgruppen betreuen und Stanislaw Krzeminski, einen alten ehemaligen Insassen, der störrisch und herrisch Svens Dienste in Anspruch nimmt. Eher gelangweilt sitzt Sven in den pädagogischen Workshops, wo Jugendliche versuchen, ihre Gefühle von Bestürzung und Hilflosigkeit zu beschreiben, die Sven, für den dies schon der Zwangsalltag des Zivis ist, fremd bleiben.
Alles über den Ort weiß man, auf eine abstrakte Art, die auch mit einem eintägigen Touristenbesuch im Lager nicht konkret werden kann. Thalheim gelingt es, in der Beschreibung der Unmöglichkeit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nie auf eine revanchistische Schiene zu gelangen, nie diese Beschäftigung mit Auschwitz als Überdruss zu beschreiben sondern als eine besondere historische Schrecklichkeit, die der Normalität von heute dennoch Raum geben muss. Sven ist dabei das Medium zwischen Zuschauer und symbolischen Ort, zunächst ein unbeschriebenes Blatt, der dann aber, in seinen Monaten als Zivi, immer mehr versteht, immer mehr verinnerlicht, was diesen Ort wirklich ausmacht.
Diese innere Entwicklung darzulegen, das gelingt Thalheim, indem er über die ständig präsente Last der Vergangenheit eine kleine, leichte Liebesgeschichte legt, indem er Sven eingespannt zwischen zwei Polen zeigt (im doppelten Wortsinn). Vor allem aber dank seiner hervorragenden Darsteller, mit Alexander Fehling, der seinen Sven als ganz unbedarften Jüngling anlegt, der erst später im Film seine wirkliche Mitgenommenheit empfindet: In Auschwitz-Birkenheide, dem Lager der Zwangsarbeiter der damaligen IG-Farben-Fabrik, das heute ein Dorf ist, wo nur noch wenige, aber gerade deshalb umso treffendere Artefakte des Leides stehen. Mit Barbara Wysocka, die die Fremdenführerin Ania spielt, eine Polin, bei der Sven wohnt, die ihr ganz normales Leben führen will. Mit Ryszard Ronczewski, der den Ex-Häftling Krzeminski spielt als einen alten Mann, dem nur noch der Umgang mit der Vergangenheit Halt gibt. Er wohnt immer noch im Lager, hält Zeitzeugenvorträge, repariert fürs Museum die Koffer, die damals den zur Austilgung bestimmten Juden abgenommen wurden das ist sein Leben, hier findet er Sinn und eine Art von Gleichgewicht.
Ihm ist ein ganz eigenes Drama gewidmet, eine doppelte Verständnislosigkeit einmal von Seiten des Auschwitz-Museums, das die Koffer eigentlich in ihrer Versehrtheit erhalten will, als originalgetreue Zeugen des Leides während Krzeminski sie liebevoll in Handarbeit in den Neuzustand versetzt. Und von Seiten desinteressierter Zuhörer, die ihm bei Vorträgen das Wort abschneiden, weil die Rede an innerer Spannung verloren hat, die bestenfalls noch seine eintätowierte Gefangenennummer sehen wollen und enttäuscht sind, dass die Ziffern im Lauf der Jahre verblasst sind.
Thalheim erzählt auch von der Arroganz der Deutschen Unglaublich, wie die Polen das hier haben verlottern lassen. Dies geschieht ohne Anklage, wie auch ohne Spott die Konstruktion einer Betroffenheits-Metaebene im Innenleben der Auschwitz-Touristen gezeigt wird: Wie wir mit der Vergangenheit umgehen, bestimmt unsere heutige Kultur: Das ist halt ein Kopfsatz, der aber kaum der tiefsten Seele entstammt. Und mit einer gewissen Leichtigkeit, auch mit Humor, kann Thalheim mit seinem Film eine wirkliche Begegnung schaffen mit dem, was Auschwitz ausmacht ohne Lagerklischees und tausendmal gehörte Phrasen, und ohne Vereinfachung oder Beschönigung.
Fazit: Robert Thalheim schafft es, einen Film über Auschwitz zu drehen, der nicht einfach nur Oftgehörtes wiederkäut, der sich nicht in falsche Betroffenheit flüchtet, sondern der durch die hervorragenden Darsteller und durch die Leichtigkeit der Inszenierung einen ganz neuen Blick auf das damalige Auschwitz und das heutige Oswiecim wirft.