Klaus Kinski ist immer eine Wucht. Das wusste man schon Anfang der 70er, als er hauptsächlich als der Irre in Edgar-Wallace-Krimis oder Spaghetti-Western bekannt war und vielleicht aus ein paar exzessiven Interviewauftritten; jedoch noch nicht durch die kraftvollen Herzog-Filme. Kinski jedenfalls versprach einen interessanten Abend, als er 1971 mit großer Vorabpromotion in einem großen Medienereignis mit vielen Pressevertretern im Publikum in der Berliner Deutschlandhalle das Neue Testament zu rezitieren versprach.
Kinski als Jesus Christus Erlöser: Das forderte Störenfriede aus den Reihen der studentischen Linken heraus, und sie begannen schnell, den Künstler auf der Bühne mit Zwischenrufen zu provozieren was unweigerlich cholerische Ausbrüche Kinskis zur Folge hatte. Das war natürlich einkalkuliert von den Störern, sie wollten den internationalen Trashstar und Liebling der Boulevardpresse reizen, den Vulkan zum Ausbruch bringen und Kinski war halt auch ein leichtes Opfer.
Seine Wutanfälle auf offener Bühne sind bereits in Teilen bekannt, etwa aus Werner Herzogs Dokumentarfilm Mein liebster Feind. Nun hat Peter Geyer aus dem Kinski-Nachlass die gesamten Bild- und Tonaufnahmen des legendären Auftritts restauriert und zusammenmontiert zu einer Rekonstruktion, nein: zu einem Konzertfilm. Kinski selbst hat wohl den Filmmitschnitt des Rezitationsabends, der ja als Auftakt zu einer Welttournee geplant war, verantwortet. Kam Kinski in den zuvor schon veröffentlichten Ausschnitten eher als Derwisch, als rabiater, ausgeflippter Wilder rüber, so wird jetzt, im Zusammenhang des gesamten Auftritts, deutlich, wie sehr es die Störer genau auf diese Reaktion angelegt haben.
Gesucht wird Jesus Christus. Angeblicher Beruf: Arbeiter, so setzt Kinski an, und schon an diesem Anfang seines Textes komm der erste Zwischenruf: Du hast doch noch nie gearbeitet! Und weiter: höhnische Kinski, Kinski-Rufe, Komiker, Arschloch und immer mit dem Alibigrund, eine Grundsatzdiskussion zu fordern; wo doch recht deutlich nur vielleicht zehn Leute die Veranstaltung sprengen wollten, in einer mit 3000 Zuschauern ausverkauften Halle.
Kinski flippt dementsprechend aus, um dann doch seinen Text zu verlesen; nach mehreren Abbrüchen und Neuanfängen. Ein Destillat des Neuen Testaments, das Jesus als Sozialrevolutionär zeigt, den Kinski als absoluten Systemkritiker zeigt, als Verweigerer der gesetzten Normen von Staat, Politik und auch Kirche nicht antichristlich, sondern antiklerikal predigt Kinski die Liebe durchaus aktualisiert auf die Wirklichkeit von Vietnamkrieg und APO-Protesten. Womit er bestimmte Themenfelder der Linken übernahm, was vielleicht ihrerseits die Störer gestört hat
Immerhin klafft ja ein ziemlicher Widerspruch zwischen Inhalt seines Textes und der Wirklichkeit, in der er die Provokateure wüst beschimpfte. Er hielt nicht seine linke Wange hin, sondern gleicht eher dem Jesus der Tempelaustreibung.
Ein ziemlich guter Text ist das, den Kinski vorträgt. Und der vielleicht gerade durch die vollkommene missratene Dynamik des Abends noch besser wird, wenn Kinski die Heuchler und Pharisäer anprangert und damit auch die Zwischenrufer meint, während die ihn an seine Liebe deinen Nächsten-Aufruf erinnern, wenn er sie beschimpft.
Ein wunderbarer Abend, ein bemerkenswerter Abend, ein historisches Dokument zu Kinskis Biographie, eine im Rückblick durchaus witzige, oft auch berührende Performance und, leider leider, das Ende der Tournee gleich an ihrem Anfang, weil einer der Veranstalter nach dem Berliner Abend ausstieg und nur noch ein einziger weiterer Auftritt, in Düsseldorf, stattfand.
Auftritte und genervte Abtritte, und immer wieder Gesucht wird Jesus Christus und niemand sollte wie die meisten am damaligen Abend den Fehler begehen, zu gehen, wenn der Vorhang scheinbar endgültig gefallen ist
denn nach dem Ende des Films geht`s noch zehn Minuten weiter.
Fazit: Ein Filmmitschnitt eines historischen Abends. Ein charismatischer Kinski, Störenfriede im Publikum, Jesus und die soziale Revolution, Beschimpfungen und Liebe deinen Nächsten: Ein mitreißendes Erlebnis, auch heute noch.