Voltaire ist schuld: Die realistisch erzählte Geschichte eines illegalen tunesischen Einwanderers in Paris, dem eine Unbekannte die Scheinehe anbietet.
Soziales Kino, nicht larmoyant, sondern unterhaltend und dennoch ernsthaft dargebracht. Das gelingt dem in Tunesien geborenen Abdellatif Kechiche mit traumhafter Sicherheit, wenn er von den Ausgeschlossenen der Gesellschaft erzählt, die ihr Existenzrecht einfordern. Eine warmherzige Geschichte über Freundschaft, Liebe und harte Realität.
Den Goldenen Löwe für den besten Debütfilm hat dieser bemerkenswerte Blick in soziale Wirklichkeit verdient. Da wird nichts beschönigt, aber auch nicht alles tiefschwarz gezeichnet. Jallel kommt aus Tunesien nach Paris, um mehr Geld zu verdienen. Seine Freunde raten ihm, sich als politisch verfolgten Algerier auszugeben, das erhöht die Chancen auf Legalität. Also wird auf dem Amt gelogen, was das Zeug hält - als Belohnung gibt’s eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und ein Bett in einem Männerwohnheim. Bald verhökert er schwarz Obst und Rosen, verliebt sich in eine „Beurette“, eine alleinerziehende Kellnerin maghrebinischer Herkunft. Die will ihn sogar pro forma heiraten, damit er im Land bleiben kann. Auf dem Standesamt verschwindet die Braut in Weiß jedoch plötzlich. Für Jallel bricht eine Welt zusammen. Kechiche, der jahrelang die Finanzierung zusammensuchte und dann den Film in sechs Wochen abdrehte, schildert das Leben der „sans papiers“ (Ausweislosen) immer auf der Flucht vor Polizeikontrollen, ihre permanente Angst, aber auch ihre Sehnsüchte, Träume und glücklichen Momente. Die Figuren sind keine Opfer, sondern bis in die Nebenrolle hinein Persönlichkeiten mit eigener Identität. Sie lavieren am Abgrund entlang, fangen sich aber immer wieder und vergessen kurzfristig das Elend. Die Handkamera ist auf Augenhöhe, entwickelt Nähe zu den Protagonisten, für die der Regisseur kein Mitleid weckt, sondern Mitgefühl. Mit arabischer Fabulierkunst entführt er in die fremde Welt der Illegalen, lässt trotz Tristesse Poesie, Humor und Witz aufblitzen. Neben einem sympathischen Sami Bouajila und einer starken Eure Atika trumpft Elodie Bouchez auf, die mit sinnlicher Ausstrahlung den von Beziehungen enttäuschten Jallel wieder Gefühle spüren lässt. Sie spielt die verlorene junge Frau, die sich allen hingibt, um ihre seelische Verletzbarkeit zu kaschieren, rückhaltlos und zutiefst bewegend. Gerade als Normalität in greifbarer Nähe scheint, wird Jallel erwischt und abgeschoben. Die Hoffnung auf ein Stückchen Glück, zerstoben und zerstört. Vielleicht ist an allem wirklich Voltaire schuld, wie der Titel suggeriert, setzte sich der scharfzüngige Franzose doch für menschliche Wohlfahrt und Gerechtigkeit ein. Werte, die auch heute noch gültig sind oder sein sollten. mk.