Nach achtjähriger Pause legt Shane Carruth mit "Upstream Color" seinen zweiten Spielfilm vor, den er erneut selbst finanzierte und mit Hilfe von Freunden realisierte. So überredete der Independent-Regisseur etwa seine Kollegin Amy Seimetz (Darstellerin in "A Horrible Way To Die"), die Hauptrolle zu übernehmen, was einer der vielen Glücksfälle des surrealen Science Fiction-Thriller-Melodrams darstellt. Nach dem enigmatischen No-Budget-Zeitreise-Kammerspiel "Primer" baut der Regisseur, Hauptdarsteller, Produzent, Cutter und Komponist in Personalunion auf einen überwältigenden Bildersturm im Scopeformat, dem man sein schmales Budget nicht ansieht.
Als Gemeinsamkeit besitzen beide Werke, dass man sie beim ersten Ansehen nicht vollends verstehen kann, was durchaus in Carruths Intention liegen mag. Manches lässt sich auch bei mehrfachem Sichten nicht erschließen, weil es dem subjektiven Erfahrungs- und Erlebnisbereich des Filmemachers entspringt, wie er an einzelnen entschlüsselten Sequenzen bei der Berlinale-Premiere erklärte. Vielmehr funktioniert "Upstream Color" wie ein langer Bewusstseinsstrom mit blitzartigen Voraus- und Rückblenden sowie einer elliptischen Struktur. Wie die Protagonisten aufgrund quälender Erfahrungen zunehmend Orientierung und Sicherheit verlieren, fühlt sich gleichfalls der Betrachter.
Da Shane Carruth nicht nur stets die Genres wechselt, sondern zugleich lineares Erzählen aufbricht, kann man nie die Storyrichtung vorab bestimmen. Was als übersinnlicher "Body Horror" mit lebenden Parasiten unter der Haut beginnt, vernachlässigt schnell die David Cronenberg-Parallele für ein Paranoia-Liebesdrama über zerstörte Lebensgrundlagen, um später die Mystery-Schiene mit einem ambivalenten Finale einzuschlagen. Selbst das Auftreten mancher Figuren bleibt rätselhaft. Ob der Schweinezüchter nun Auftraggeber, Komplize oder nur Zeuge des Diebes ist, wird nicht geklärt, zumal beide Charaktere nie gemeinsam auftreten.
Im Gegensatz zu "Primer" verlässt sich Carruth stärker auf die Kraft seiner Bilder und das Sounddesign es ist kein Zufall, dass der Forscher, im Nachspann nur "The Sampler" genannt, gleichzeitig Töne und Stimmen sammelt. In letzten Viertel verzichtet Carruth ganz auf Dialoge, wenn man einmal vom erneuten Zitieren des Romans "Walden" absieht, den die Entführten einst zwanghaft abschreiben mussten. Dann liefert Henry David Thoreaus Klassiker über spirituelle Erkenntnisse, zugleich als "Life in the Woods" bekannt, den Charakteren Zugang zu verschütteten Erinnerungsfetzen und dem Zuschauer vage Hinweise zur Entschlüsselung des Stoffes.
Shane Carruths intelligente Studie über wechselnde/zerbrechende Identitäten, Fremdbestimmung und übergreifende Kontrolle will das Publikum bewusst heraus fordern. Darüber hinaus gelingen ihm einige starke emotionale Szenen und poetische Naturimpressionen. Diese und der per Handkamera und Jump Cuts voran getriebene Bilderrausch erinnern an Terence Malicks letzte Arbeiten wie etwa "Tree of Life", ohne jedoch dessen Pathos und prätentiösen Anstrich anzustreben.
Mancher Berlinale-Zuschauer wollte sich dem Gedankenexperiment nicht bis zum Ende aussetzen. Zumindest gehört Shane Carruth zu den derzeit interessantesten Independent-Regisseuren, der sich für sein nächstes ambitioniertes Werk hoffentlich nicht wieder acht Jahre Zeit nehmen muss.
Fazit: Der experimentelle "Upstream Color" liefert ein verschachteltes, fesselndes SciFi-Thriller, das Sehgewohnheiten durch seine komplexe Struktur konstant heraus fordert.