Arbeit auf dem Bauernhof. Die 15jährige Adele arbeitet hart, das ist so in einem familiengeführten Betrieb. Doch sie ist nicht bei der Sache, sie bekommt es nicht hin; sie verliert eine Kuh auf dem Weg von der Weide zum Stall. Im Haus herrscht die herbe, harsche Welt des Bauern. Liebe vielleicht, ja, aber keine Herzlichkeit, sondern Praktikabilität und Pragmatismus. Man redet nicht viel miteinander. Sind das Klischeebilder des derben Bauernstandes? Ja; aber begründet. Denn ein Zimmer im Bauernhaus ist verlassen, darin, unterm Bett, ein rotes T-Shirt, eine Erinnerung an bessere Zeiten, an fröhlichere Zeiten.
Wie eine Urgewalt ist da plötzlich ein grobschlächtiger, wilder, bärtiger Bär von einem Mann im Haus, der sich versteckt, der Adele in seine Gewalt bringt - in seinen Bann zieht. Er ist ein Flüchtiger, aus dem Gefängnis ausgebrochen, wo er wegen Totschlags einsaß. Er ist für Adele ein Geschenk des Himmels, ein Ausweg aus dem tristen Leben: und sie schließt mit ihm einen Pakt. Sie verhilft ihm zu Flucht, er wird sie im Gegenzug töten - den Selbstmord, den Sprung von der Klippe schafft sie nicht aus eigener Kraft. Ein teuflischer Vertrag ist das, und natürlich unerfüllbar - würde er sie töten, wäre er der Mörder seiner Geisel. Sie ziehen gemeinsam los, er muss raus, sie muss raus. Und sie machen sich auf den Weg durch den Wald Richtung Frankreich, weiter durch das fremde Land bis Marseille.
Ein Roadmovie nimmt seinen Lauf - den Regisseurin Emily Atef in ihrem dritten Spielfilm geschickt um die Gefahren von Klischees und Formelhaftigkeiten herumführt. Das lieblose Leben auf dem Bauernhof? Die Familie lebt in Trauer. Die Begegnung mit einer hilfreichen Frau in Frankreich, die auch eine erotische ist zwischen ihr und Timo, dem entlaufenen Sträfling? Er hat etwas Animalisches, sie hat keine Konsequenzen zu befürchten: also nicht völlig an den Haaren herbeigezogen; zumal ja auch Adele beginnt, für Timo zu schwärmen, Stockholm-Syndrom, gemeinsames Ziel und pubertäre Schwärmerei in einem.
Langsam lüften sich die Geheimnisse, die die Figuren umgeben; langsam wachsen die beiden zu einer Gemeinschaft zusammen, wenn auch zu einer auf Zeit; und immer ist da der Wunsch, die Verabredung, sie zu töten. Einmal ist sie krank, eine Lebensmittelvergiftung - er könnte sie sterben lassen und tut es nicht.
Es geht um Flucht, auch aus einem Leben, das man nicht mehr will; und um Hoffnung, die in Marseille liegen könnte, bei Timos Bruder, der das Geld für eine Überfahrt nach Marokko herausrücken soll. Und um eine Gemeinschaft, die besteht, weil sie im Tod, in der endgültigen Trennung enden soll. Atef setzt diesen Film, diesen Weg, den die beiden miteinander gehen, in hervorragende fotografierten, suggestiven Bildern um, mit Darstellern, die in ihren Rollen aufgehen. Maria Dragus spielt ihre Rolle der Adele als eine Unsichtbare, eine Verschwindende - Roeland Wiesnekker ist die pure körperliche Präsenz, der Drang nach vorne, weg. Ihre Gegensätzlichkeiten fügen sich im Film zusammen; und dabei ist beim gemeinsamen Fortkommen doch stets die Fragilität einer möglichen Erfüllung des Paktes gegeben.
Fazit: "Töte mich!" ist ein kraftvoller und hervorragend fotografierter Roadmovie um eine Teenagerin mit Todeswunsch und einen Häftling mit Freiheitswillen.