Charlotte Gainsbourg muss das ganze Spektrum der Gefühle ausleben in diesem Film: Wut und Zorn, Trauer und Depression, Glück und Liebe, Mitgefühl und Fürsorge. Sie spielt Dawn, junge Witwe nach dem Tod ihres Ehemannes, die nun allein mit ihren vier Kindern zurechtkommen muss, in einem neuen, leereren Leben. Gainsbourg ist perfekt in dieser Rolle, sie füllt sie voll aus und doch steht sie nicht im Mittelpunkt dieses Films. Nicht schauspielerisch denn in dieser Hinsicht ist Morgana Davies als achtjährige Tochter Simone eine Entdeckung, die ihre Trauer in Glück, das Fehlen des Vaters in den Trost durch ihren Freund, den Baum, verwandeln kann. Und dieser Baum: er ist das handlungsdramaturgische Zentrum, um ihn dreht sich alles, ein riesiger Feigenbaum, der imposant das hölzerne Haus von Dawn und ihrer Familie dominiert. Im Abspann sind die Baum-Scouts aufgelistet, acht, neun, zehn Personen, die auf der Suche waren nach dem perfekten Baum; einer hat ihn gefunden, und im Grunde ist ihm dieser Film zu verdanken.
Der Baum: in ihn projiziert Simone ihre Trauer, in ihm sieht sie die Seele des verstorbenen Vaters lebendig gehalten. Der Vater, der nicht mehr da ist: er ist die Leerstelle, der Gegenpol zum enormen Feigenbaum. Zu Anfang sieht man ihn im Alltag, liebevoll mit der Familie, bei harter Arbeit als Truckfahrer; und wenn man weiß, worum es im Film geht, ist jeder Moment spannungsgeladen, jederzeit kann ihm etwas geschehen: beim Transport eines riesigen Hauses auf der Ladefläche des LKWs; beim Autofahren; wenn da ein Zug heranbraust, über eine Brücke, darunter versteckt die Tochter Simone
Dann endet dieser Prolog unspektakulär, sein Auto rollt gegen den Baum, darin der Vater tot, Herzinfarkt, und Monate später ist dieser Verlust noch nicht bewältigt.
Die Mutter in Trauer vernachlässigt die Familie, sich selbst, der älteste Sohn sieht sich als Vaterersatz, gefällt sich in der Rolle, trinkt dessen Whisky, nimmt einen Job an. Der jüngste Sohn hat das Sprechen noch nicht gelernt, der mittlere zieht sich zurück. Simone, die einzige Tochter, hat ihr Geheimnis: im Rauschen der Blätter, im Knarzen des Holzes hört sie ihre Vater, im Baum, und sie beschließt, glücklich zu sein.
Und tatsächlich suggeriert der Film die Verbindung zwischen Vater und Baum, die Wurzeln greifen aus, zerstören Wasserleitungen, Treppe und Hauswand, so wie der Verlust des Vaters die Familie überwältigt hat, der Baum wird zerstörerisch, so wie die andauernde Trauer, die Isolation und der Verantwortungsverlust Dawn und ihre Familie zu zerstören droht. Einmal bricht ein riesiger Ast ab, durchbricht die Schlafzimmerdecke, liegt in Dawns Bett; und sie schläft bei diesem Ast, unter den Blättern geborgen. Da hat sie schon jemanden kennengelernt, George, sie hat sich leise verliebt, und eine Rivalitätsgeschichte baut sich auf zwischen George und dem Baum, gespiegelt in der Perspektive von Simone. Wenn der Baum fällt, ist der Vater noch einmal gestorben.
The Tree behandelt die Themen von Verlust und Trauer, Trost und Erlösung, Wiederfinden von Glück auf spannende Weise über diese Viererkonstellation: Baum, Simone, Dawn, George, über die dynamischen Konflikte und Allianzen, Emotionen und Handlungen zwischen ihnen. Und nur die Zerstörung, das kraftvolle Aufbrechen dieser Konstellation kann eine Zukunft bringen.
Es wurden laut Abspann für diesen Film keine Bäume misshandelt.
Fazit: Ein großes Trauerdrama, ganz klein gespielt; mit tollen schauspielerischen Leistungen und einem enormen Baum.