Rückkehr in die Normandie: Nicolas Philibert würdigt seinen Lehrmeister René Allio und begibt sich auf eine persönliche wie poetische Zeitreise.
Der Filmemacher Nicolas Philibert würdigt seinen berühmten Lehrmeister René Allio und begibt sich dazu auf eine gleichermaßen persönliche wie poetische Zeitreise.
Ein Ferkel plumpst in diese Welt. Das Tier ist blau, zittert, atmet nicht. Eine Hand packt es, schüttelt es, versucht es zu reanimieren. Lange bleibt die Kamera am Geschehen. Das verstört, irritiert, stimmt nachdenklich. Dann sieht man den Schweinezüchter, einen grobschlächtigen Mann im Overall, dem man später wieder begegnen wird. Fröhlich diesmal, entspannt, in geblümter Weste mit Strohhut, auf dem Standesamt bei seiner Hochzeit. Ein ungewöhnlicher Einstieg für eine ungewöhnliche Arbeit: „Rückkehr in die Normandie“ von Nicolas Philibert. Vor 30 Jahren, zu Beginn seiner Karriere, war er Regieassistent von René Allio, der in der Normandie „Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère…“ drehte, die Bearbeitung eines wahren Mordfalls, auf den Philosoph Michel Foucault gestoßen war: 1835 hatte der 20-jährige Rivière seine Mutter, die Schwester und den Bruder mit einer Hippe (eine Art Messer) getötet. Unter großen Anstrengungen „rekonstruierte“ Allio die Bluttat, in einem 30 Kilometer vom ursprünglichen Tatort entfernten Dorf, besetzte die Rollen der Bauern mit örtlichen Laien, die der Obrigkeit mit gelernten Schauspielern. Das Ergebnis ist eine Art ethnologisches Dokument, das das raue Landleben des 19. Jahrhunderts (be)greifbar macht, ein präzises und unverfälschtes Sittenbild, das die Hintergründe des brutalen Verbrechens, ohne Stellung zu beziehen, aufdeckt.
Philibert, 2002 für „Sein und Haben“ mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet, sucht die Menschen wieder auf, die einmal Teil seines Lebens und für einen kurzen Moment Schauspieler waren. Der Mann mit dem Ferkel etwa. Man plaudert über damals, scherzt, zeigt alte Fotos und erinnert sich: Wie die Mitspieler für die Kamerafahrten selbst Schienen legen, der Crew zur Hand gehen wollten. „Nein, ihr seid hier Schauspieler!“, soll der freundliche Monsieur Allio, 1995 verstorben, da gerufen haben. Die Trennung wurde von den Bauern nicht akzeptiert, die arbeitstechnische, die gesellschaftliche insgesamt. Doch der Regisseur setzte sich durch. Zum Schluss kommt noch ganz überraschend der verschollen geglaubte Hauptdarsteller Claude Hébert, der Pierre R., im Bild zu Wort. Bei Jacques Doillons „Ein kleines Luder“ hat er noch mitgewirkt, nach ein paar weiteren Parts jedoch eine andere Berufung gefunden: als Missionar, der heute in Haiti wirkt. Wie ein „verlorener Sohn“ kommt er einem vor. Der gefunden wurde - wie auch Philiberts „verlorener Vater“. 30 Szenen strich Allio einst aus Kostengründen, andere, bereits gedrehte, schnitt er. Die mit Foucault etwa und auch die mit Philiberts Vater, der als Justizminister beim König um Gnade für Rivière bittet. Vergeblich. 1976 war das im Kino nicht zu sehen. Der Sohn hat die tonlose Szene gefunden und beschließt damit seinen Film. geh.