Powder: Moderne Kaspar-Hauser-Story, durchsetzt mit Elementen des übernatürlichen Thrillers und des klassischen Internats-Dramas.
Zeichen und Wunder geschehen bei Disney immer wieder und immer wieder gern, zuletzt auf dem Gebiet der Computeranimation, wo „
Toy Story“ nie gekannte Bilder aus dem Cyberspace zauberte und an der (US-)Kinokasse vergoldete. Ein wenig beschaulicher und konventioneller geht es bei „Powder“ zu, einem melancholischen Science-fiction-Drama um einen Jungen mit übernatürlichen Fähigkeiten in Texas. Entdeckt wird der sensible Teenager mit der albinoweißen Haut (Sean Patrick Flanery) im Keller seiner Großeltern, als nach dem Tod des Großvaters der Sheriff (
Lance Henriksen) nach dem Rechten sehen will. Bestaunt als eine Art Kasper Hauser und mit Mißtrauen beäugt wie alles Fremde, das in die ländliche Idylle der örtlichen Gemeinde eindringt, kommt Powder unter der Obhut einer engagierten Lehrerin (
Mary Steenburgen) in ein Heim für Waisenkinder und obdachlose Jugendliche. Die Anfeindungen der anderen Jungen wehrt er in einer der besten Szenen des Films ab, indem er seine elektromagnetischen Kräfte wirken läßt und im Speisesaal ein bizarres Gebilde aus Besteck vor sich auftürmt. Das eigentliche Geheimnis und die übermenschliche Intelligenz Powders zu verstehen, bleibt jedoch dem Physiklehrer (
Jeff Goldblum) vorbehalten, der dafür Einstein und jede Menge Metaphysik ins Feld führt: Nachdem seine Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus von einem Blitz getroffen wurde, wurde Powder quasi von Geburt an eins mit den Elementen, ein feinstoffliches, gedankenlesendes Medium, das unter den Grausamkeiten der menschlichen Welt entsetzlich leidet. Bis der Film sich zu diesem Kern seiner Story vorgearbeitet hat, vergehen allerdings erst einmal gute 40 Minuten, in denen Regisseur Victor Salva etwas unentschlossen mit den Stilmitteln des Science-fiction-Films (John Carpenters „
Starman“ war ganz augenscheinlich eines seiner Vorbilder) und des Internat-Dramas arbeitet (im Club der toten Physiker ist Powder der unverstandene Feingeist). Sobald man sich aber auf die spirituelle Leidensgeschichte des kalkweißen Avatars einläßt, funktioniert „Powder“ durchaus als sanftes und emotionales, von leisen homoerotischen Anspielungen durchsetztes Drama: Am Schluß beschwört der Junge Donner und Blitz, um wieder in göttliche Sphären einzutauchen. In den USA kam „Powder“ sein Starttermin in der Vorweihnachtszeit sehr gelegen. Dort ließen sich die Zuschauer offensichtlich nicht von dem kurzfristig hochgekochten Presseskandal um eine frühere Verurteilung Victor Salvas wegen sexueller Belästigung Minderjähriger abschrecken und bekundeten seinem insgesamt doch sehr schönen, stillen Film am Boxoffice ihre Sympathie. evo.