Nach „The Blackout“, 1997 entstanden, legte sich das Dunkel um Abel Ferrara. Lediglich drei Filme realisierte das US-enfant-terrible nur noch bis 2001, dann war lange Pause. Nun, auf den 62. Filmfestspielen von Venedig, meldete er sich zurück. Mit „Mary“, einem gewohnt provokant inszenierten Bibel-Diskurs. Streckenweise angelegt als Film im Film, geht es um Glauben und Erlösung, um Verfehlung und Vergebung - klassische, bewährte Ferrara-Themen, die Forest Whitaker, Juliette Binoche und Matthew Modine bestens zu transportieren verstehen.
Die letzte Klappe am Set zum revisionistischen Bibeldrama „This Is My Blood“ ist gefallen. Christus-Darsteller und Regisseur Tony Childress, den Matthew Modine lustvoll mit Abel-Ferrara-Ticks ausstattet, drängt seine Protagonistin, den europäischen Star Marie Palesi (Juliette Binoche), zum Aufbruch. Es gilt, das Flugzeug nach New York zu erreichen. Doch „seine“ Maria Magdalena, noch vollkommen gefangen in ihrer Rolle, weigert sich, „ihren“ Jesus zu begleiten, begibt sich stattdessen auf Sinnsuche nach Jerusalem.
Ein Jahr später im „Big Apple“. TV-Journalist Theodore „Ted“ Younger (Forest Whitaker) moderiert eine „Bibelwoche“, spricht mit Fachleuten - gespielt von renommierten Theologen wie Jean-Yves Leloup, Amos Luzzatto und Elaine Pagels - über den „historischen“ Christus und dessen Gültigkeit für die heutige Zeit. Die Quoten sind exzellent, der angestrebten steilen Karriere scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Zumal der ehrgeizige Younger den berechnenden Childress ins Studio geladen hat, um mit ihm dessen kontroverses, von Fundamentalisten bereits im Vorfeld geschmähtes Werk zu diskutieren…
Mit seiner „Dreifaltigkeit“, Childress, Palesi und Younger - einem „Ketzer“, einer Gläubigen und einem Opportunisten - reflektiert der „Bad Lieutenant“ in den Reihen der Regisseure über Schuld und Sühne, übers Filmemachen, Mel Gibsons und Martin Scorseses Bibelarbeiten, Gewalt, Liebe, Geschlechterkampf, Terror und die Macht der Medien. Wie ein einziger großer, wüster Drogenrausch mutet „Mary“ an, wenn in Jerusalem Bomben die Sabbat-Stille zerreißen, Babys in Brutkästen zappeln, Marie mit verklärtem Gesicht vor der Klagemauer steht oder Younger rücksichtslos seine im achten Monat schwangere, unter Einsamkeit und Depressionen leidende Frau (Heather Graham) betrügt.
Düster - von Kameramann Stefano Falivene in dunklen Farben und Unschärfen gehalten - die Gesamtstimmung, an den Nerven zerrend Francis Kuipers‘ Musik, beiläufig, wie hingeworfen Inszenierung und Montage. Wohin das Script von Ferrara, Simone Lageoles und Mario Isabella zielt, wird niemals ganz klar, dafür des Regisseurs eigene Unbedingtheit. War die Theologie bei ihm früher Subtext, drängt sie nun heftig an die Oberfläche. Seine Hauptfigur Theodore, was übersetzt „Gottes Geschenk“ meint, geht (für ihn?) durchs Fegefeuer, leidet, wütet, (über)lebt. Whitaker („Ghost Dog“) nimmt man diese Zerrissenheit in jeder Sekunde ab, ihm folgt man fasziniert, während die dramatische Auflösung der Geschichte leider nicht stattfindet. Radikal, geradezu stur, verweigert sich Ferrara der filmischen Norm - das polarisiert und macht seine cineastischen Exkurse so spannend. Der Jury in Venedig gefiel das und vergab dafür den „Silbernen Löwen“ für die beste Regie - zu Recht. geh.