Leberkäseland: Tragikomödie über das Leben einer türkischen Familie in einer rückständigen deutschen Kleinstadt in den 60ern nach dem Roman "Tante Semra im Leberkäseland" von Lale Akgün.
Tragikomödie über das Leben einer türkischen Familie in einer rückständigen deutschen Kleinstadt in den 60ern.
Wenn es nicht so bedrückend wäre, könnte man darüber lachen: Anfang der Sechzigerjahre kommt eine fortschrittlich denkende türkische Familie aus der Weltstadt Istanbul ins beschauliche niederrheinische Moers. Das sei bestimmt ein Kulturschock gewesen, vermutet ein gönnerhafter Nachbar. Damit liegt er völlig richtig, aber anders, als er glaubt: Die begnadete Mathematikerin Latife (Neda Rahmanian) hat gerade als eine der ersten Frauen die Aufnahmeprüfung für die Technische Universität bestanden, als ihr Mann Burhan (Murathan Muslu) in Moers die Zahnarztpraxis seines Vaters übernehmen soll. Schockiert muss die Feministin und Atheistin erkennen, dass ihre neuen Mitbürgerinnen einem in ihren Augen mittelalterlichen Frauenbild entsprechen.
Nils Willbrandts Tragikomödie, in gewisser Weise das türkische Pendant zu Fatih Akins „
Solino„, basiert auf den mal heiteren, mal melancholischen Geschichten aus Lale Akgüns Buch „Tante Semra im Leberkäseland“. Die frühere SPD-Politikerin schildert darin ihre Kindheit und Jugend. Vergleichbar episodisch ist auch Willbrandts Drehbuch angelegt, was den Film mitunter etwas zerfahren wirken lässt. Ohnehin ist die Handlung zu vielschichtig für neunzig Minuten; das Potenzial vieler Nebenfiguren kann nicht ausgeschöpft werden. Das gilt vor allem für die drei Kinder des Ehepaars, die die Integration natürlich ganz anders erleben als die Eltern; ihre Lebensgeschichten würden vermutlich genug Stoff für einen eigenen Film ergeben. Dafür hat Willbrandt, der die teilweise turbulenten Ereignisse offenbar nicht auch noch temporeich inszenieren wollte, nach einigen Zeitsprüngen bis ins Jahr 1984 am Ende aber keine Zeit mehr, weshalb Latifes Karriere als Mathematikerin ebenso zu kurz kommt wie die Entfremdung zwischen den Eheleuten; ein Zweiteiler wäre der Komplexität des Stoffs gerechter geworden.
Bedauerlich ist auch der fehlende Mut zur fremden Sprache. Die Eltern engagieren einen Deutschlehrer (Peter Jordan), damit sich die Kinder so rasch wie möglich integrieren können. Das sorgt einerseits für Heiterkeit, weil er die Mädchen auch in die fremden Sitten und Gebräuche (Knicks!) einführt, wirkt andererseits absurd, weil die Familie schon in Istanbul perfekt deutsch spricht. Anscheinend hat die auftraggebende ARD-Tochter Degeto den guten Willen ihres Publikums nicht allzu sehr strapazieren wollen: Wenn sich die Zuschauer auf eine Geschichte über Türken einlassen, sollen sie nicht auch noch Untertitel lesen müssen.
Es spricht für die Qualität des Films, dass er trotzdem sehenswert ist. Das „Erste“ zeigt „Leberkäseland“ im Rahmen seiner Themenwoche „Heimat“, und dazu passt er natürlich perfekt. Die beengten Kleinstadtverhältnisse hat Willbrandt auch dank der Ausstattung liebevoll rekonstruiert, gleichzeitig aber dafür gesorgt, dass seine Heldin in diesem Rahmen fast mondän wirkt. Neda Rahmanian verkörpert die verschiedenen Facetten der Hauptfigur so glaubwürdig, dass es völlig unverständlich ist, wieso sie bislang bloß Nebenrollen gespielt hat. tpg.