Feel Like Going Home: Martin Scorseses Liebeserklärung an den Mississippi Delta Blues und musikalische Entdeckungsreise zu dessen afrikanischen Wurzeln in Mali.
Er ist vielleicht der vollkommenste Filmemacher der Neuzeit: Martin Scorsese. Ob Spiel- oder Dokumentarfilm, seine Arbeiten sind stets Entdeckungen. Virtuos bringt er Bilder und Musik miteinander in Einklang - siehe „Casino“, siehe „Kap der Angst“. Und dass er etwas vom Musikfilm versteht, hat der Regisseur mit dem legendären „The Band“-Konzertmitschnitt „The Last Waltz“ längst bewiesen. Keine Frage, dass seine filmische Hommage zum vom US-Kongress 2003 ausgerufenen „Year of the Blues“, „Feel Like Going Home“, wohl bestens ankommen wird.
Einmal mehr interessiert Scorsese das große Ganze, der Überblick, wie bei „Mio viaggio in Italia“, seiner fundierten Dokumentation über den italienischen Film, oder „A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies“, seiner ganz eigenen Sichtweise des US-Kinos. Jetzt geht’s um Wesen und Werden des Blues, die Interaktion zwischen Afrika und den USA, zwischen Mali und dem Mississippi-Delta. In seinem Beitrag zur sieben Filme umfassenden PBS-Reihe „The Blues“, die er auch als ausführender Produzent betreut hat, sucht das Multitalent nach den Wurzeln des Blues, nach noch lebenden Pionieren des unsterblichen, ewig prägenden und inspirierenden Musikstils.
Sein „Kundschafter“ ist Corey Harris, ein Colorado-stämmiger Blues-Gitarrist und -Anthropologe, der sowohl in New Orleans als auch in Kamerun lebt. Gemeinsam mit dem Kollegen Keb‘ Mo‘ hat dieser sich tief ins Hinterland von Mississippi begeben, wo sie Otha Turner treffen, einen Mann, der es noch versteht die Fife, eine Art Flöte, zu spielen, und auch Sam Carr, ehemals Drummer der Jelly Roll Kings. Im Gespräch mit ihnen erwacht Robert Johnson zum Leben, eine Ikone des Delta-Blues. Oral history at it’s best! Und dann kommt Taj Mahal zu Wort, eine lebende Blues-Enzyklopädie, der mit zahlreichen afrikanischen Musikern Tonträger eingespielt hat und für Charley Patton eine Lanze bricht. Dieser Mann, geboren 1887, gestorben 1934, ist für ihn die Personifizierung des Blues. Bei dessen Musik, behauptet er, wird Lebenslust und -leid der Baumwollfelder spürbar, die Armut, die Sklaverei, der Hunger und die Gier nach Spaß.
Schauplatzwechsel. Die sonnendurchflutete Steppe Malis. Unter einem Baum sitzen sie, die Blues-Größen des Schwarzen Kontinents, Ali Farka Toure, der gerne als der afrikanische John Lee Hooker bezeichnet wird, Salif Keita und Toumani Diabate. Sie räsonieren und philosophieren, über Vergangenheit und Moderne, musikalische Schnittstellen und darüber, ob Patton wohl heute dieselbe Sicht der Welt hätte wie damals.
Perfekt gestaltet ist dieser Musik-Essay, der elegant neue Einspielungen mit Archivaufnahmen vermengt. Montiert nach einem klugen Drehbuch von Peter Guralnick, der viel Raum gelassen hat für Improvisationen. Ein Film wie Musik, Gesprächssituationen wechseln sich mit historischem Material ab, für Anekdoten ist ebenso Platz wie für geschichtliche Fakten. Martin Scorsese knüpft Fäden bei seiner „Blues Brothers“-Variante, schafft Zusammenhänge. Musikunterricht und Unterhaltung gehen eine wunderbare Liaison ein - und wenn der ergraute Son House auf körnigem Schwarz-Weiß-Material sein „Death Letter“ heult, rhythmisch seinen Fuß stampft und mit einer alten National Gitarre kämpft, dann ist plötzlich klar, dass Blues mehr ist als Musik. Blues, das heißt Leben. geh.