Die Reise des jungen Che: Außergewöhnliches Biopic, Coming-of-Age-Drama und Roadmovie über den jungen Che Guevera und seinen abenteuerlichen Weg zum Revolutionär.
Berlinale-Chef Dieter Kosslick war zurecht betrübt über Walter Salles‘ Entscheidung, sein Biopic über den jungen Ernesto „Che“ Guevara aus dem Wettbewerb in Berlin kurzfristig zurückzuziehen und Cannes den Zuschlag zu geben: Die auf den Tagebüchern Guevaras und seines damals besten Freundes Alberto Granada beruhende Verfilmung einer acht Monate währenden Reise durch Südamerika im Jahr 1952, die sich als Wendepunkt im Leben des späteren Revolutionärs erwies, ist ein zutiefst leidenschaftliches und uneitles Coming-of-Age-Movie, festgehalten in Form einer Serie von Schnappschüssen, der mit heiteren und amüsanten Episoden beginnt. Aber mit zunehmender Dauer entwickeln sich die „Motorcycle Diaries“ fast unmerklich zu einem ernsten Film über Lebensanschauungen, Entscheidungen und politische Notwendigkeiten, gespiegelt durch die Augen Guevaras, der von Gael Garcia Bernal in einer Weise gespielt wird, dass man nicht den Blick von ihm abwenden kann.
Nichts ist übrig geblieben von Salles‘ zwar kunstvollen, aber letztlich doch quälend künstlichen Bildkompositionen seiner nicht an kreativer Eitelkeit sparenden letzten Regiearbeit „Hinter der Sonne“ aus dem Jahr 2001. An „The Motorcycle Diaries“ ist nichts gefällig, bemühtes oder gar selbstverliebt. Salles, der vor sechs Jahren mit „Central Station“ den Goldenen Bären gewann und zuletzt als Produzent von „City of God“ auffiel, hat den Stil seiner Filmbiographie ganz dem Inhalt untergeordnet. So ist ein Film entstanden, der tatsächlich die Qualitäten eines Tagebuchs hat: Er wirkt dringlich, spontan, leidenschaftlich, stellenweise aber auch verträumt und poetisch. Ganz ungemein profitiert er davon, seine Geschichte in Form eines Road Movies zu erzählen. Das hat Sturm und Drang, macht Spaß wegen seiner unablässigen Bewegung und fördert den Ansatz, die Entwicklung von Ernesto, dem idealistischen Medizinstudenten und verliebten Frauenliebling, hin zu Che, dem charismatischen Kämpfer für eine gerechtere Welt, in einer Abfolge von Momentaufnahmen zu erzählen, ohne jemals episodisch zu wirken. Oft mit handgehaltener Kamera und bestehendem Licht vor Ort gedreht, haben die „Motorcycle Diaries“ den Look and Feel eines Dogma-Films. Aber improvisiert oder gar amateurhaft wirkt hier nichts, denn Salles erweist sich als erstklassiger Romancier, dem es gelingt, eine epische Geschichte mit intimem Blick zu erzählen.
Ausgang der Reise ist das tief empfundene und jugendlich naive Bedürfnis des 23-jährigen Argentiniers Ernesto aus der oberen Mittelklasse, mit seinem Kumpan Alberto von Buenos Aires aus den eigenen Kontinent zu entdecken. Durch Chile, Peru und Venezuela soll der Trip auf der schrottreifen ’39er Norton 500, Spitzname „Die Mächtige“, führen, um am 30. Geburtstag des lebenslustigen Alberto zu enden. Zuvor will man noch einen Zwischenstopp in dem exklusiven Miramar einlegen, wo Ernesto seine Freundin bei ihrer wohlhabenden Familie besuchen will. Es ist ein enttäuschendes Erlebnis - und der letzte Blick auf Reichtum und Luxus. Diese Welt lassen Ernesto und Alberto hinter sich, als sie sich durch Natur und Berge kämpfen, immer wieder unbequem und unfreiwillig von ihrer Norton absteigen und in komischen Episoden, Land, Leute und vor allem interessierte Chicas kennen lernen - ganz kurz lässt „Y tu mama tambien“ grüßen. Als das Motorrad endgültig seinen Geist aufgibt, geht die zunehmend beschwerlichere Reise zu Fuß weiter. Zu diesem Zeitpunkt wandelt sich der Ton des Films: Raste er bisher wie im Rausch dahin, bleibt nun Zeit für Konflikte und die genaue Betrachtung dessen, was um die beiden jungen Männer vorgeht. Wie sie kann sich Salles nicht satt sehen an den Menschen der Gegend, die er immer wieder in schwarzweißen Schnappschüssen festhält, stolz und ungebrochen, aufrecht und schön. Sie - ihre Nöte, ihre Kämpfe und ihr Bedürfnis nach Organisation und Selbsthilfe - geben Ernestos vagen politischem Idealismus einen realistischen Fokus, der den Asthmatiker verändert, was sich in der abschließenden Episode in einer Lepraklinik in Venezuela niederschlägt.
So ist „The Motorcycle Diaries“ natürlich ein politischer, aber nie ein didaktischer Film. Er stellt keine Thesen auf und sucht danach passende Bilder dafür, sondern zeigt Umstände und Situationen und veranschaulicht deutlich, wie sie einen Menschen beeinflussen. Vor allem geht es Salles aber um Menschen, ihre Gefühle und Bedürfnisse - und das mit einer Aufrichtigkeit, bei der man die Waffen strecken muss. Gewiss, er mag Guevara idealisieren und in späten Momenten des Films gar messianische Züge verleihen. Aber er macht auch klar, warum er so nachhaltig das Vertrauen und die Zuneigung der Menschen gewinnen und zum meist romantisierten Revoluzzer-Helden des letzten Jahrhunderts werden konnte. Letzten Endes ist diese wilde und zärtliche Ballade aus dem Herzen Südamerikas ein Film über Hoffnung und Zuversicht. Und genau deshalb werden ihn die Menschen lieben, wie sie Che Guevara geliebt haben. ts.