Das süße Jenseits: In Cannes prämiertes, einfühlsames, psychologisch-subtil ausbalanciertesDrama mit intensiver Bilderwelt.
Eine furchtbare Tragödie stürzt die Bewohner einer Kleinstadt in Trauer, Wut und Hilflosigkeit. „Das süße Danach“, jener Ort für die, die Frieden mit ihrem Schicksal gemacht haben, bleibt unterm Eis verborgen in diesem starken, unterkühlten Drama des Kanadiers Atom Egoyan, der dafür in Cannes mit dem Großen Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
Erst allmählich läßt Egoyan den Zuschauer ahnen, was passiert ist in dem tiefverschneiten kanadischen Örtchen Sam Dent, in das der Großstadt-Anwalt Mitchell Stephens (Ian Holm) gefahren kommt. Stephens bietet den Bewohnern seinen juristischen Beistand an: er will die Herstellerfirma des Schulbusses auf Schadensersatz verklagen, der bei einem schrecklichen Unfall ins Eis eingebrochen ist und bis auf ein Mädchen alle Kinder des Städtchens in den Tod gerissen hat. Die Reaktion der trauernden Eltern auf sein Angebot ist zurückhaltend bis feindselig. Niemand will die frischen Wunden wieder aufreißen oder Profit aus dem Unglück schlagen. Mit viel Geduld gelingt es Stephens, zwei Familien für sich zu gewinnen und mehr über den Unfall und die Bewohner zu erfahren.
Atom Egoyan ist sich des emotionalen Potentials der Geschichte bewußt. Sorgfältig vermeidet er, den Zuschauer direkt durch den Tränensee zu führen. Wie schon in „Exotica“ und „Der Schätzer“ entwirft der Regisseur, der den gleichnamigen Roman von Russell Banks auch selbst für die Leinwand adaptierte, eine ungeheuer komplexe, symmetrische Erzählstruktur, innerhalb derer die Figuren eingesperrt und auf der Suche nach einem Ausweg sind. Hin und her springt die Handlung auf verschiedenen Zeitebenen, und es ist der architektonischen Brillianz des Regisseurs zu verdanken, daß der Film dabei keinen Moment zerfahren wirkt. Anders als im Roman, in dem die Bewohner von Sam Dent der Reihe nach ihre Erlebnisse schildern, hat Egoyan den Anwalt als zentrale Figur gewählt. Dessen Leidenschaft für diesen Fall rührt daher, daß er selbst seine Tochter verloren hat: an Drogen und, wie wir später erfahren, dadurch auch an Aids. Die Stricke, die Stephens noch ans Leben binden, sind ebenso gespannt wie die seiner Klienten. Ian Holm spielt diese Rolle mit großer Eindringlichkeit. Hinter seinem maskenhaften Gesicht dräuen und gären die mühsam kontrollierten Gefühle.
Doch es geht nicht so sehr um persönliches Leid in „The Sweet Hereafter“, sondern um eine Reflexion über das Schicksal an sich - das hier durch die Parabel vom Rattenfänger von Hameln, der die Kinder wegholte, personifiziert wird - und darum, wie die Menschen versuchen, in ihren engen Käfigen des Leids die Kraft zum Weiterleben zu finden. Und Egoyan zweifelt eigentlich keinen Augenblick daran, daß am Ende eines jeden Weges, mag er auch noch so sehr von Tragik überschattet sein, jenes „Süße Danach“ wartet. Ihn interessieren, und daraus zieht der Film wie beiläufig seine stärkste dramatische Wirkung, vor allem die Abgründe und Schicksalsbande, die durch das schlimme Ereignis erst freigelegt werden: das (durch ein einziges Bild enorm wirkungsvoll angedeutete) inzestuöse Verhältnis eines Vaters mit seiner halbwüchsigen Tochter entscheidet schließlich über das weitere Geschehen. evo.