Die literarische Verfilmung "Bittere Kirschen" steht mit ihrer vom Unausgesprochenen lebenden Stimmung und dem Wechsel zwischen inneren und äußeren Welten irgendwo zwischen dem Theater und dem handlungsorientierten Kino. Das nachdenkliche Roadmovie von Regisseur Didi Danquart (Offset) verweigert sich eindeutigen Erklärungen und lässt viele der Fragen, die es aufwirft, offen. Aber wie seine Romanvorlage Lenas Liebe von Judith Kuckart verströmt der Film eine eigentümliche Atmosphäre. Interessant könnte er für Kinobesucher sein, die etwas anderes als Popcorn-Unterhaltung suchen, sowie für die Leser des Romans, die sich auch mit den Möglichkeiten der filmischen Umsetzung beschäftigen wollen.
Wirklich sympathisch sind die Figuren dieser Geschichte zumindest zu Anfang nicht, wenn das Ensemblespiel der Darsteller sich noch nicht vollends entfaltet hat. Sowohl die Erzählweise, als auch das Benehmen zum Beispiel von Lena (Anna Stieblich) oder von Julius Dahlmann (Martin Lüttge) sind auf Distanz bedacht. Die blasse Lena, eine nicht mehr junge Frau, erfährt im Büro ihres Theaterchefs vom Tod der Mutter. Ohne ein Wort für den Mann, der ihr gerade erklärt hat, dass sie kein Gewinn für seine Bühne ist, verlässt sie erhobenen Hauptes den Raum. Was sie so selbstbewusst wirken lässt, bleibt ungesagt, ebenso, warum sie kurz darauf in ihrer Heimat Ludwigs (Roland Kukulies) Antrag mit einem schnöden Themawechsel pariert. Lena lebt zum Teil immer auch außerhalb des Geschehens, als würde sie es von oben herab betrachten. Diese leichte Ironie und das Kühle strahlt auf seine Weise auch der alte Julius aus.
Die Fahrt nach Auschwitz wird für Julius zur Begegnung mit Kindheitserinnerungen. In kleinen Fetzen kehren sie wieder, wenn er durch den Ort geht und das Haus sieht, in dem er mit seinen Eltern lebte. Der Vater war Aufseher im Konzentrationslager und bestrafte den kleinen Jungen brutal, als er ihn mit einem neunarmigen Kerzenleuchter in der Hand tanzen sah. Julius bewunderte seine kleine Freundin Marlis Lenas Mutter - für ihren Mut und nahm ihr Kindheitsversprechen, dass er ihr Mann sei, beim Wort. Erst nach Marlis´ Tod findet Julius allmählich Zugang zu seiner lebenslangen unterschwelligen Trauer, weil Marlis einen anderen heiratete. Lena ist auf dieser Fahrt an der Seite von Julius eine Beobachterin, die sich über Umwege klar darüber zu werden versucht, was ihr Ludwig bedeutet. Sie macht sich auch Gedanken über den Sinn der KZ-Gedenkstätte und den angemessenen Umgang mit der Vergangenheit des Ortes.
Als dritte Person auf der Heimfahrt im Auto aus Auschwitz stellt sich der katholische Priester Richard Franzen (Wolfram Koch) einer schmerzlichen Selbsterkenntnis. Seine Gefühle für Lena haben ihm gezeigt, dass er für das Zölibat nicht länger geschaffen ist. So schwer wie die Themen sich auch ausnehmen, die das Trio auf der Reise wälzt, so spöttisch oder achselzuckend heiter können die Dialoge im einzelnen sein. Julius interessiert am Konflikt des Priesters scheinbar vor allem, was aus seiner Sozialversicherung wird.
Die kargen, dörflichen Landschaften in Polen, die verregnete Asphaltstraße an endlosen einsamen Wiesen vorbei, die alten Alleebäume oder die renovierungsbedürftigen Häuser zwischen neuen, gesichtslosen Bauten, sie bilden eine melancholische Kulisse für die Reise der Figuren in ihre Erinnerungen und Fantasien. Die Vergangenheit prägt ihre Vorstellungen wie ein Trugbild, dem sie nachjagen, als wäre es an der nächsten Ecke wirklich noch zu finden. In kurze, ihre Bedeutung nie ganz preisgebende Szenen aufgeteilt, verlangt die Geschichte vom Zuschauer Geduld und Toleranz für manches, was unnötig rätselhaft bleibt. Die musikalische Begleitung und die kreativ eingeflochtenen Rückblenden und Tagträume verleihen dem Film Leichtigkeit und emotionale Tiefe zugleich.
Fazit: Die literarische Verfilmung Bittere Kirschen ist ein kontemplatives Roadmovie über drei in der Vergangenheit gefangene Charaktere.