"Auge um Auge" ist kein leichter Film, er ist noch nicht einmal leicht in ein Genre einzuordnen. Es ist ein Thriller, der aber weitgehend ohne die großen Schockmomente auskommt. Sicher auch ein Action-Film, mit Schießereien und Schlägereien aber doch nie großes Spektakel. "Auge um Auge" ist bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt, und die Figuren, die Christian Bale ("The Fighter", "The Dark Knight Rises"), Woody Harrelson ("Natural Born Killers", "Larry Flint Die nackte Wahrheit"), Willem Dafoe ("Platoon", "Die letzte Versuchung Christi") oder Forest Whitaker ("Panic Room", "Der Butler") spielen, sind sehr tiefgründig. Ein Charakterdrama also? Auch. "Auge um Auge" ist auf jeden Fall ein ausgesprochen vielschichtiger Film. Vielleicht ist das ein Grund, warum Regisseur Scott Cooper ("Crazy Heart") für sein neues Projekt mit Tony Scott ("Top Gun", "True Romance"), Ridley Scott ("Alien", "Blade Runner") oder Leonardo DiCaprio ("Titanic", "The Wolf of Wall Street") einige sehr namhafte Produzenten finden konnte.
Ein anderer Grund könnte sein, dass "Auge um Auge" auf all seinen Ebenen ein sehr abgründiges, düsteres Amerika-Bild zeichnet, weit ab vom Hollywood-Image des Landes, ganz und gar nicht das "land of the free" und "home of the brave", das in der Nationalhymne besungen wird. Hier ist niemand reich und schön, niemand wirklich frei von Zwängen und Mut entsteht höchstens aus schierer Verzweiflung. Streckenweise funktioniert "Auge um Auge" als Milieustudie über die amerikanische Kleinstadt nach der Wirtschaftskrise. Der Kriegsheimkehrer Rodney findet keinen Job, das Stahlwerk, in dem Russell arbeitet, soll geschlossen werden.
Vor dieser ohnehin dramatischen Kulisse entwickelt sich das eigentliche Drama des Thrillers. Denn letztendlich sind es die materiellen Nöte, die Rodney erst dazu bewegen, sich mit dem dubiosen Buchmacher John Petty (Willem Dafoe) und schließlich Harlan DeGroat einzulassen. In der zweiten Hälfte des Films, in der Russell nach seinem Bruder sucht, kippt die düstere Stimmung ins Beklemmende. Streckenweise erzeugt "Auge um Auge" eine Atmosphäre wie die HBO-Serie "True Detective", in der Woody Harrelson gerade als Cop zu sehen ist, oder der Horror-Klassiker "Texas Chainsaw Massacre", in dem es ja abseits des Splatters auch immer um die Verlorenheit und Abgeschiedenheit der Protagonisten an einem verbotenen Ort geht. In "Auge um Auge" stellen nicht die Bayous von Louisiana oder das texanische Hinterland diesen verbotenen Ort dar, sondern die Wälder Pennsylvanias. Eine Gegend, die der Film als gottverlassen und gesetzlos inszeniert, in der Leute wie DeGroat schalten und walten können, wie es ihnen beliebt.
"Auge um Auge" erzählt seine Geschichte unaufgeregt, minimalistisch und reduziert. Der Film kommt ohne große Effekte aus und lebt stattdessen vom hervorragend Spiel der beiden Antagonisten Christian Bale und Woody Harrelson. Er erzählt keine große Geschichte, aber dafür eine sehr intensive, die den Zuschauer nachhaltig berührt. Man kommt nicht gut gelaunt aus dem Kino, denn in "Auge um Auge" gibt es keine Helden und kein Happy End. Wie gesagt: es ist wahrlich kein leichter Film aber ein durchaus sehenswerter.
Fazit: "Auge um Auge" ist ein bedrückender Rache-Thriller mit zwei hervorragenden Hauptdarstellern ein Action-Film ohne Helden, der Gewalt nie glorifiziert, sondern sie als sadistische Abscheulichkeit oder verzweifelten, letzten Ausweg inszeniert.