Alice und Martin: Düstere, tragische Liebesgeschichte mit einer glänzenden Juliette Binoche.
In seinen insgesamt 14 Filmen beschäftigt sich André Téchiné gerne mit der Psyche seiner Protagonisten, seziert fast analytisch ihr Inneres, enthüllt ihre verborgensten Geheimnisse. In „Alice & Martin“ nähert er sich in komplexer Weise der Frage von Schuld und Sühne.
Der 55jährige Franzose, der wie viele seiner Generation sich erst einmal als Autor bei den „Cahiers du Cinéma“ Meriten verdiente und dann 1977 mit dem Thriller „Mord um Macht“ für Furore sorgte, hat ein Faible für gebrochene Figuren, die versuchen, mit persönlichem Versagen umzugehen. So zeichnete er in „
Ich küsse nicht“ das Porträt eines seelisch verkümmerten Strichjungen, in „
Meine liebste Jahreszeit“ die Beziehung eines gutbürgerlichen Geschwisterpaares, oder in „
Diebe der Nacht“ den Kampf zweier ungleicher Menschen um das Herz eines Mädchens. Seine Helden geben sich oft cool und sind dennoch dünnhäutig, öffnen ihren seelischen Panzer nur selten, tragen den Wunsch nach Distanz wie ein Schutzschild vor sich her. Der junge Martin ist ein „typischer“ Téchiné-Protagonist. Völlig abgebrannt und verstört sucht er Zuflucht bei seinem schwulen Halbbruder in Paris, beginnt eine leidenschaftliche Beziehung zu dessen Wohngenossin Alice (Juliette Binoche), einer sensiblen Violinistin. Langsam scheint ein ganz normales Leben für ihn möglich zu sein, auch wenn er als Model urplötzlich im Rampenlicht steht. Auf der Flucht vor zuviel Erfolg kapselt sich das Liebespaar immer mehr von der Außenwelt ab. Als Alice im Urlaub ihre Schwangerschaft offenbart, fällt Martin kurzzeitig ins Koma, wird psychisch krank. Die Schatten der Vergangenheit holen ihn wieder ein, glaubt er doch, seinen Vater bei einem Handgemenge getötet zu haben. Alice weiß, daß nur eins den Geliebten retten kann - die Wahrheit. Er muß sich der irdischen Gerechtigkeit stellen. Mit allen Konsequenzen.
Wie Téchiné hinter die Fassade der heiligen Familienwelt schaut und sukzessive verdrängte und düster Geheimnisse entdeckt, einen autoritären Vater als Ursache verpfuschten Lebens decouvriert, das entpuppt sich im Laufe der Handlung als undurchschaubares Puzzle mit vielen verwirrenden Rückblenden und sperrigen Dialogen. Der mit Problemen überlasteten Plot verlangt sehr viel Geduld. Ob der Zuschauer die aufbringt, ist fraglich. Schon die quälend lang(atmig) ausgewalzte Exposition - Martins Flucht aus dem Haus der Stiefeltern, sein halbherziger Suizidversuch - heizen das Interesse nicht gerade an. Zwar beeindruckt die Intensität mancher emotionaler Szenen mit Juliette Binoche, die als einfühlsame Frau überzeugt, aber dem Gesamtwerk mangelt es an der sonst für Téchiné so typischen narrativen Kraft. Was bleibt ist große Ratlosigkeit. mk.