Kundun: Martin Scorsese simple und zugleich experimentelle Annäherung an das Leben und die Lehren des 14. Dalai Lama.
Von den GoodFellas in „Casino“ zu einem echten good fellow in Tibet: Martin Scorseses Annäherung an das Leben des 14. Dalai Lama fasziniert als filmische Pilgerfahrt, die trotz aller Pracht und Würde der Bilder mit einer für westliche (und Scorseses) Verhältnisse ungewöhnlichen Bescheidenheit und Demut aufwartet - eine deutliche Reaktion auf die Gewaltexzesse vorangangener Filme. Anders als Jean-Jacques Annaud mit „Sieben Jahre in Tibet“ ist dem besten Regisseur Amerikas in seiner persönlichsten Arbeit seit „Die letzte Versuchung Christi“ nicht daran gelegen, historische Ereignisse in epischer Form zu bebildern. Vielmehr bemüht sich Scorsese darum, eine filmische Ergänzung zu und eine Verschmelzung mit der tiebetanischen Kultur und dem buddhistischen Glauben zu erzielen. Eine scheinbar unmögliche Aufgabe, die der Filmemacher in einigen virtuos montierten Szenen tatsächlich löst. Das Ergebnis ist pure Magie.
Sicherlich ist „Kundun“ (tibetanisch für „Ozean des Wissens“), gleichermaßen simpel und experimentell, kein Film für den schnellen Konsum. Jede Arbeit, die sich ernsthaft mit dem Leben des Dalai Lama (der eng in die Entstehung des Films involviert war) auseinandersetzt, wird mit den üblichen dramatischen Konventionen schnell an ihre Grenzen stoßen. Eine Chronologie der Ereignisse läßt keinen Einblick in das außerordentliche Innenleben einer vom Aussterben bedrohten Kultur zu. Genau das aber ist Scorseses Ziel in dieser aufrichtigen, nach innen gerichteten Meditation, die erleuchten, stimulieren und letztlich auch aufrütteln will. Von der ersten Szene des zweijährigen Dalai Lama, dessen Augen aufmerksam den Füßen seiner Eltern folgen, ist klar, daß der Filmemacher die Gesetze des narrativen Kinos vernachlässigt. Am besten läßt sich „Kundun“ als bewegtes Gemälde beschreiben, nicht unähnlich der feinen Sandmandala der tibetanischen Mönche, die leitmotivisch von ihrer Entstehung bis zu ihrer Zerstörung den Film während seines gesamten Verlaufs begleiten.
Martin Scorsese ist in „Kundun“ nicht so sehr Regisseur, sondern vielmehr Pilger, der die Reise nach Tibet angetreten hat, um, weit weg von den heimischen Mean Streets seines New York, mit neuen Augen zu sehen, neue Wege zu gehen, zu lernen und zu verstehen. Unschwer sieht man auch einen autobiographischen Ansatz: wenn der Dalai Lama als kränklicher, aber inspirierter Zweijähriger seine Eltern terrorisiert oder später seinen ersten Film sieht, dann fühlt Scorsese zumindest eine Verwandtschaft mit dem Buddha des Mitgefühls, die ihm den Zugang in die ihm fremde, tibetanische Welt ermöglicht. Wenn er die unablässigen unerklärlichen Rituale abfilmt, dann nie aus der distanzierten Sicht eines Eindringlings, sondern aus den verzückten Augen eines Kindes, das so langsam selbst in seine Kultur und spätere Aufgabe eingeführt wird.
„Kundun“ ist ein Wagnis. Melissa Mathisons Drehbuch verzichtet auf dramatische Höhepunkte und verweigert Erklärungen. Es gibt keine westlichen Schauspieler, mit denen man die Reise durch Tibet (tatsächlich wurde der Film in Marokko gedreht) antreten könnte. Alle Rollen werden von tibetanischen Laien gespielt, deren Englisch gut, aber auch überflüssig ist. Die Geschichte des Tenzin Gyatso, der als Zweijähriger in einem einsamen Dörfchen gefunden und zum 14. Dalai Lama erklärt wird, funktioniert auch ohne Worte. Von weisen Mönchen umgeben und geschult, wächst der Junge in Lhasa zum Mann heran und wird auf sein künftiges Amt vorbereitet. Wenn schließlich die chinesische Armee in dieses Paradies der Nichtgewalt einmarschiert, dann hat der Moment eine ätherische, irreale Qualität. Bei einem Besuch in Peking wird der Dalai Lama mit Mao konfrontiert, der ihn wie ein Kind behandelt, ihm erklärt, daß Religion Gift sei und sein Schicksal herablassend besiegelt (eine meisterliche Szene!). Mit seinen engsten Vertrauten muß der junge Mann nach Indien fliehen.
Die Beteiligten vor der Kamera mögen Nobodies sein, hinter den Kulissen aber umgab sich Scorsese mit den Besten der Branche. Kameramann Roger Deakins, Ausstatter Dante Ferretti, Cutterin Thelma Schoonmaker und der mächtige Score von Philip Glass (rückt den Film nahe an „Koyaanisquatsi“) tragen dazu bei, daß dieses Gedicht über Texturen und Stille weniger plump als „Sieben Jahre in Tibet“ und nuancierter als „Little Buddha“ wirkt. Vor allem das bewegende Drama in der letzten halben Stunde, in dem der Dalai Lama lernen muß, mit dem Verlust eines Universums umzugehen, geht zu Herzen. In diesen Momenten ist „Kundun“ tatsächlich ein Ozean des Wissens. ts.